Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Deutschen OI-Gesellschaft hielt der im November 2020 verstorbene Dr. Peter Radtke 1994 in Mauloff eine Rede, die 20 Jahre später in der Sonderausgabe unsere Mitgliedszeitschrift DURCHBRUCH anlässlich des 30-jährigen Bestehens der DOIG abgedruckt wurde. An vielen Stellen ist sie erstaunlicherweise – noch oder wieder? – aktuell, und der Aufruf, Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt zu sein, kann heute noch als Handlungsleitfaden (nicht nur) für die DOIG gelten.
Gleichzeitig zeichnet sie wichtige Meilensteine nicht nur der Geschichte der DOIG, sondern der Behindertenbewegung in Deutschland allgemein nach. Sie ist in großen Teilen derart programmatisch, das wir sie hier gerne nochmals* einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung stellen und unseren Gründer damit selbst zu Wort kommen lassen. (akp)
(*Überschriften und Auswahl der hervorgehobenen Zitate: akp)
Liebe Freunde der OI-Gesellschaft, liebe Mitglieder.
Ein schöner Augenblick, ein freudiger Augenblick: Zehn Jahre Bestehen unseres Vereins voller Arbeit, voller Erfolge, voller wachsender Anerkennung. Das will, das soll gefeiert werden. Wir dürfen stolz sein auf das, was wir erreichen konnten, wenngleich es vielleicht weniger ist, als manche von uns erhofft haben. Nicht alle unsere Erwartungen sind in Erfüllung gegangen. Nicht immer lag dies an uns. Da waren die ausbleibenden Erfolge in der medizinischen Behandlung der Ol, auf die wir vor zehn Jahren noch so gesetzt hatten; da mussten wir zusehen, wie engagierte Ärzte, die sich an einigen wenigen Orten im gemeinsamen Bemühen um unser Krankheitsbild zusammen gefunden hatten, aus dem einen oder anderen Grund die entsprechenden Kliniken verließen, und wir so heute nicht mehr von zwei klardefinierten Behandlungszentren in Deutschland sprechen können; da gab es Frustration und Ärger von Betroffenen und ihren Angehörigen gegenüber den Medizinern, weil auch Ärzte nur Menschen sind, sich irren können und vor allem nicht in allen Fällen das Unmögliche möglich machen können. Aber im Großen und Ganzen stehen wir doch besser da als damals im Sommer ´84, als wir auf dem Domberg in Freising die Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta Betroffene gründeten.
Wenn ich mich erinnere, wie wir zu jener Zeit darüber klagten, dass es keine deutschsprachige Broschüre für unsere Behinderungsart gäbe, wie Eltern weitgehend hilflos der Geburt eines OI-Kindes gegenüberstanden, während heute die meisten Kliniken zumindest unsere Adresse kennen, wie der Erfahrungsaustausch in kleinen und kleinsten zufälligen Kreise stattfand, dann meine ich, dass wir mit Recht sagen können: „Es hat sich gelohnt“. Mitglieder unserer Gemeinschaft, OI-Betroffene – und dabei denke ich nicht nur an mich – sind in die Öffentlichkeit gegangen und haben damit unsere Behinderungsart auch einem größeren Teil der Gesellschaft bekannt gemacht. So kandidierte der in unseren Kreisen bestens vertraute Dr. Jürgens für den Deutschen Bundestag und unsere Schweizer Freundin Carole Piguet erwarb Achtung und Anerkennung in der Geißendörfer-Verfilmung von Dürrenmatts Novelle „Justiz“. Ich möchte fast behaupten, und man verzeihe mir meine Arroganz: OI-Betroffene sind zu einer Art Speerspitze in der Auseinandersetzung um das Thema „Integration in die Gesellschaft“ geworden.
Dennoch, oder gerade deshalb, erlaube ich mir, meinem Geburtstagsreferat, das auch den Stellenwert der Selbsthilfe in unserer Gesellschaft beleuchten soll, die Aufforderung des Bekannten Lyrikers Günther Eich zum Thema zu geben: „Seid Sand im Getriebe der Welt, nicht Öl“ Wir alle haben einmal als Sand im Getriebe begonnen. Wir erkannten, was dieses Getriebe aus uns Menschen macht, besonders aus uns Behinderten, wenn wir uns ihm nicht entgegenstellen. Wir mussten Sand sein, weil jede andere Funktion unser Ende bedeutet hätte. Aber was ist aus diesen Erkenntnissen geworden? Sind Behinderteninitiativen heute nicht vielfach zum Schmiermittel degeneriert, mit dem die Maschinerie überhaupt erst am Laufen gehalten wird? Ich denke dabei an die zahlreichen Versuche, behinderte Bürger und ihre Organisationen in Entscheidungsprozesse einzubinden, die eben gegen sie selbst gerichtet sind …
Der christliche Ansatz: Vorteil und Belastung
Halten wir einen kurzen Rückblick auf die Selbsthilfebewegung, um unseren eigenen Platz darin zu orten. Jahrhundertelang wurde Behindertenarbeit als caritative Aufgabe verstanden. Zumeist lag sie in den Händen der Kirche. Weil Christus gebot, auch den Schwachen und Benachteiligten als seinen Bruder anzusehen, und gerade ihn, wurde diesem Personenkreis besondere Zuwendung zuteil. Dies war ein Vorteil gegenüber anderen Kulturräumen, stellte sich in der Folgezeit aber auch als Belastung für ein unverkrampftes Verhältnis zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen heraus. Der Umsorgte war reines Objekt. Gegenstand mildtätigen Handelns. Ein neues Moment in der Betrachtungsweise behinderten Daseins brachte die Aufklärung sowie die erste industrielle Revolution. Zum einen wurde das Bewusstsein geweckt, dass alles, was über menschliche Vernunft verfügt, wert der Förderung sei und daher spezielle Schulung und Ausbildung benötige. Zum anderen erhielt der Begriff der Produktivität einen neuen überdimensionalen Stellenwert. So entstanden im Laufe des 19. Jahrhunderts Krüppelheime und Kreditanstalten, in denen Behinderte zu wertvollen, um nicht zu sagen, verwertbaren Gliedern der Gesellschaft herangezogen werden sollten. Nicht selten lagen derartige Initiativen bereits in den Händen philanthroper Privatleute oder staatlich beeinflusster Institutionen. Diese erste Phase der Selbsthilfe, die in Wirklichkeit keinerlei „Selbsthilfe“ darstellte, kann man am besten mit dem Oberbegriff „Fremdbestimmte Fürsorgesysteme“ überschreiben.
Kriegsinvaliden: Der erste Ansatz echter Selbsthilfe
Die ersten Ansätze einer echten Selbsthilfe fanden sich nach dem Ersten Weltkrieg. Invaliden schlossen sich zusammen und Menschen, die ihr Augenlicht eingebüßt hatten, um ihre Interessen gegenüber Staat und Gesellschaft durchzusetzen. Diese ersten Behindertenorganisationen, die durch den Zweiten Weltkrieg einen weiteren Auftrieb erhielten, legten ein erstaunliches Selbstwertgefühl an den Tag. Begründet war dies durch extrem günstige Voraussetzungen. Wer die Funktion seiner Glieder und Organe im Dienste des Vaterlandes eingebüßt hatte, besaß gewissermaßen einen legitimen Anspruch auf Rücksichtnahme und Wiedergutmachung. Hinzu kam die Tatsache, dass die meisten Betroffenen jungen Alters waren. Diese Menschen konnten und wollten nicht einsehen, dass sie plötzlich durch einen Granatsplitter oder ein Schrapnell zu nutzlosen Individuen geworden sein sollten. Sie legten ihre Forderungen auf den Tisch und fanden rascher als Geburts- oder berufsbedingte Behinderte Gehör für ihre Anliegen. Bei jenen erwiesen sich die Ausgangsbedingungen als wesentlich ungünstiger. Besonders das Dritte Reich hatte mit seinem rasseideologisch geprägten Euthanasieprogramm jeglichen, wie immer gearteten Integrationsansatzbehinderter Menschen in der Gesellschaft auf Jahre hinweg ad absurdum geführt. Gerade den Angehörigen geistig behinderter, aber auch körperbehinderter Betroffener steckte die Angst vor der physischen Vernichtung angeblich unwerten Lebens tief in den Knochen. Daraus resultierte die Tendenz, unauffällig zu bleiben, zu verstecken, das eigene Schicksal vor der Umwelt zu verheimlichen. Auf solchen Grundlagen lässt sich kaum ein Organisationsnetz aufbauen.
Ansätze aus dem Ausland: Elternvereinigungen
Es nimmt daher nicht Wunder, dass der erste Anstoß zur Selbsthilfebewegung bei Zivilbeschädigtenaus dem Ausland kam, von einem Holländer, Tom Mutters. Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete er als Beauftragter der Vereinten Nationen für sogenannte „Displaced Persons“, als Fremdarbeiter und Verschleppte, zunächst ein Lager für verwaiste Kinder. Auf seine Initiative hin wurde 1958 die erste Vereinigung „Lebenshilfe“ gegründet, der in den nächsten Jahren über vierhundert weitere Gruppenfolgen sollten. Wenn die Elternvereinigung Lebenshilfe hier als Selbsthilfeorganisation angesprochen wird, so mag dies vielleichtbei einigen behinderten Zuhörern auf Widerspruch stoßen. Geht nicht unser heutiges Denken vielmehr in Richtung einer Beteiligung der Betroffenen? Handelt es sich nicht um die Bevormundung heranwachsender Behinderter durch ihre Angehörigen? Solche modernen Gedanken sind sicher unhistorisch. Sie entsprechen nicht der Situation vor dreißig Jahren und selbst heute muss man im Falle von geistig Behinderten ihre Allgemeingültigkeit zumindest hinterfragen. So sehr das Recht des behinderten Menschen auf Selbstverwirklichung zu verteidigen ist, so unbestritten muss bleiben, dass auch die Eltern von behinderten Angehörigen behindert, also betroffen sind. Durch das Schicksal der Behinderung in ihrem Familienkreis werden sie existentiell berührt. „Selbsthilfe“ ist daher ein durchaus angemessener Begriff, wenngleich in einem etwas umfassenderen Sinne als die reine „Behindertenselbsthilfe“.
Gerade am Beispiel der Lebenshilfe zeigt sich jedoch auch ein typischer Mechanismus, der für viele Selbsthilfegruppen Gültigkeit besitzt. Aus dem Engagement, Defizite aufzuarbeiten, die kirchliche und staatliche Institutionen nicht abdeckten, ergab sich eine Entwicklung hin zu einem Fürsorgesystem eigener Gesetzmäßigkeit. Die Vereinigung erwarb Grundstücke, baute Schulen und Kindergärten, betrieb Werkstätten und Wohnheime. Aus einem losen Interessenverband mit dem Schwerpunkt auf ideeller Vertretung war ein Träger von Einrichtungen geworden, der mehr und mehr in Abhängigkeit zu jenen geriet, die ihm den Unterhalt zum Betrieb solcher Einrichtungenbereitstellten. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich habe keinesfalls die Absicht, Trägerverbände derartiger Institutionen an den Pranger zu stellen. Befinden wir uns nicht alle in mehr oder minder der gleichen Situation? „Wes Brot ich ess´, des Lied ich sing“, so lautet schon seit alters her ein bekannter Spruch. Oftmals ist es sogar ein Wagnis, Verordnungen und neue Gesetze zu kritisieren. Schließlich trägt man Verantwortung für viele Menschen, so dass jeder Schritt sorgsam überlegt werden muss.
Neues Demokratieverständnis Ende der 60-er Jahre
Eine neue Dimension erlangte die Behindertenbewegung Ende der 60-er, Anfang der 70er-Jahre. Zum einen organisierten sich die bis dahin unabhängig voneinander vor sich hin arbeitenden Selbsthilfegruppen in der Bundesarbeitsgemeinschaft „Hilfe für Behinderte“, zum anderen entstand durch den Zusammenschluss verschiedener lokaler Gruppen die sogenannte CeBeeF-Bewegung, die Bewegung der Clubs Behinderter und ihrer Freunde. Diese Ausrichtung war insofern etwas völlig Neues, als sie von Anfang an das natürliche Miteinander von behinderten und nichtbehinderten Gruppenmitgliedern postulierte. Nicht so sehr der Gedanke, „für“ jemand etwas zu tun, stand im Vordergrund, als vielmehr die Idee, dem Betroffenen selbst eine Stimme zu geben. Die Entwicklung wäre wahrscheinlich ohne die Studentenunruhen des Jahres 1968 niemals möglichgewesen. Ein neues Verständnis von Demokratie und Gesellschaft musste diesem Ansatz das entsprechende Fundament verleihen. In dieser Gesellschaft sollte auch der behinderte Mensch seinen angemessenen Platz erhalten.
Radikale Ausdrucksform: Die Krüppelbewegung
Es konnte nicht ausbleiben, dass dieses neue Selbstwertgefühl auch radikalere Ausdrucksformen hervorbrachte. Aus der Keimzelle eines Volkshochschulkurses in Frankfurt entstand eine Gruppierung, die sich später unter Einbeziehung anderer Kreise „Krüppelbewegung“ nannte. So zwiespältig diese Entwicklungen zu beurteilen sein mögen, so unbestritten dürfte sein, dass viele Probleme der behinderten Minderheit in unserem Staat einer breiten Öffentlichkeit erst durch spektakuläre Einzelaktionen gerade der „Krüppelbewegung“ nahegebracht wurden. Es ist nun einmal leider so: Der Stille im Lande wird in der Berücksichtigung seiner Interessen wohl immer zurückstehen müssen, während derjenige, der lautstark mitseinen Forderungen auf die Straße geht, am ehesten Gehör findet. Doch das Bild relativiert sich, wenn man bedenkt, dass manche Errungenschaften, welche behinderte Demonstranten auf der Straße erkämpft haben, letztlich allen Behinderten, also auch den weniger Aufmüpfigen, zugutekommen. Es wäre daher ein Fehler, die Behindertenbewegung in Gute und Böse auseinanderdividieren zu wollen. Den einzelnen Betroffenen sind unterschiedliche Pfunde gegeben, und jeder sollte versuche, sich dort einzubringen, wo er am sinnvollsten für die Gemeinschaft und seine Schicksalsgefährten wirken kann.
Anfang der 80-er Jahre: Rückschritte setzen ein
Doch die Epoche der großen Hoffnungen, teilweise auch der Auflehnung gegen überkommene Strukturen, neigte sich, kaum dass sie begonnen hatte, bereits ihrem Ende zu. Ganze fünf Jahre sollten Behindertenthemen sozusagen noch „in“ sein. 1981 sah den Höhepunkt, gleichzeitig jedoch das vorläufige Ende einer Entwicklung, die den behinderten Bürger als gleichberechtigtes Glied einer multikulturellen Gemeinschaft definierte. Die kleinen, aber stetige Schritte in den Jahren vor 1981 hinzu einem neuen Behindertenbild in unserer Gesellschaft endeten in einem spektakulären Medienrummel, der die mühsam errungene Erfolge in Frage stellte. Indem der behinderte Bürger im wahrsten Sinne des Wortes auf ein Podest gehoben wurde, setzte er sich von der übrigen Bevölkerung ab, wurde nun auf andere Weise Außenseiter, war der Gemeinschaft erneut, und ich würde sagen, bis auf den heutigen Tag entfremdet.
1982 war dann die Zeit der Schonung vorüber, Sparmaßnahmen waren angesagt. Das Schwerbehindertengesetz wurde verändert, Kürzungen in den Zuwendungen für Betroffene und ihre Organisationen traten in Kraft, das Netz der sozialen Absicherung begann, Löcher zu bekommen. Es hätte ein schlechtes Bild abgegeben, die vorgesehenen Einschnitte auf Kostenbehinderter Bürger ausgerechnet im offiziell gefeierten Internationalen Jahr der Behinderten in Krafttreten zu lassen. So verschob man die Radikalkur um knappe zwölf Monate, nun in der befriedigenden Gewissheit, dass die Bevölkerung aufgrund der überreizten Tage und der eigenen Sorgen um Arbeitsplatz und Lebensstandard von Behinderten und deren Probleme ohnehin die Nase voll habe. Die Rechnung ging auf. Noch heute laborieren wir an Kürzungen und Einsparungen, die bei ausschließlich wirtschaftlichen Erwägungen längst hätten, wieder aufgehoben werden müssen. Genau in diese Zeit fielen die Erwägungen zum Zusammenschluss der Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta Betroffene.
Sich abfinden, heißt nicht mehr und nicht weniger als Selbstaufgabe.
Welche Rolle hat in dieser sozialpolitisch veränderten Landschaft eine Behindertenselbsthilfegruppierung wie die unsere? Ist sie überhaupt noch zeitgemäß? Können die mächtigen Wohlfahrtsverbände und die mitgliederstarken Interessenvertretungen in Tagen defensiver Strategiebemühungen und der Bewahrung erreichter Positionen der Betroffenen und ihren Angehörigen nicht wertvolle Dienste leisten? Es gehört ja zu den Eigenschaften der großen Organisationen und Verbände, dass in ihrem Beharrungselement, im Zug zum Konservatismus, im positiven Sinne, auch ihre Stärke gegenüber Angriffen von außen begründet ist. Die Selbsthilfegruppe in der Größenordnung unserer Vereinigung hat, meines Erachtens, zweierlei Funktionen: Sie betreut einen speziellen Personenkreis mit seinen je eigenen Problemen in einer Weise, wie dies von keinem Großverband übernommen werden kann. Zum anderen aber ist sie „Sand im Getriebe“, was bedeutet: Gebt Euch nicht zufrieden mit dem, was alles läuft. Sich abfinden, heißt nicht mehr und nicht weniger als Selbstaufgabe. Es wäre ein Fehler, den Politikern im Sozialbereich oder den Funktionären großer Verbände wegen mangelnder Flexibilität nur bösen Willen zu unterstellen. Teilweise sind sie Gefangene ihres eigenen Systems. Sie brauchen die Hilfe von außen, die innovativen Ideen, die noch nicht auf Schritt und Tritt mit dem Gedanken belastet sind: ,,Das ist nicht machbar, nicht finanzierbar; das passt nicht in das vorgegebene Raster“.
Lasst uns Pläne entwerfen, konzipieren wir in gewaltigen Dimensionen, denken wir das Undenkbare!
Hier liegt nun unsere Aufgabe, eine Aufgabe, die uns von niemandem abgenommen werden kann. Lasst uns Pläne entwerfen, konzipieren wir in gewaltigen Dimensionen, denken wir das Undenkbare! Wir brauchen keine Angst vor der Größe unserer Gedanken haben. Unter den Kugelschreibern und Füllfederhaltern der Abteilungsleiter und Behindertenreferenten werden sie ohnedies zu Miniaturausgaben unserer Vorstellungen. Wir brauchen in unserer Welt Utopien; realistische Perspektiven haben wir genug. Wo es keine Utopie mehr gibt, da verliert auch die Realität ihr Fundament. Nun begreife ich unsere Arbeit keinesfalls in dem Sinn als utopisch, dass sie Hirngespinsten nachjagt. Utopia, ,,nicht Ort“ will lediglich sagen, dass kein Ort vorhanden ist, an dem sich die Vorstellungen ansiedeln ließen. Eine Gemeinschaft, in der behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichberechtigt miteinander leben, wo der Einzelne nur nach seinen Stärken, nicht aber nach seinen Defiziten beurteilt wird, eine Leistungsgesellschaft, die Leistung nicht nach dem definiert, was herauskommt, sondern nach dem, was an Einsatz eingebracht wird, eine Welt, in der der Behinderte zu geben und der Nichtbehinderte zu geben gelernt hat, all dies hat noch keinen Ort, ist also im echten Sinn utopisch. Doch bedeutet dies, dass ein solcher Ort nicht geschaffen werden könnte? Wer aber sollte ihn schaffen?
Speerspitze sein, nicht Nachhut: Der Glaube an Veränderbarkeit
Schaffen müssen ihn die Vorausdenker, diejenigen, die zum Beispiel wie wir von Geburt an gezwungen wurden, aus der Normalität auszubrechen, weiterzudenken als bis zur nächsten Gehaltserhöhung oder dem neuesten Automodell. Die Wohlfahrtssysteme und die öffentliche Fürsorge garantieren ein Mindestmaß an Sicherheit. Doch ist Sicherheit alles? Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Auch Entwürfe sind nötig. Entwürfe für ein menschenwürdigeres Leben. Hier, und genau hier setzt unsere Verantwortung ein. Wenn wir uns dieser Aufgabe stellen, wenn wir unsere Funktion begreifen, Speerspitze zu sein und nicht Nachhut, wenn wir den Glauben an Veränderbarkeit in einer Atmosphäre der Erstarrung bewahren, dann werden wir auch in fünfzehn, in dreißig Jahren Festtage wie den heutigen begehen können. Dies rettet auch unseren Verein vor der Gefahr des Austrocknens, der Entleerung von Inhalten. In diesem Sinne wünsche ich uns allen noch viele Gelegenheiten, ,,Sand im Getriebe der Welt“ zu sein.